Neurodiversität und Autismus

Autismus betrifft schätzungsweise 1 bis 2 % der Bevölkerung – mit einer vermuteten Dunkelziffer, da insbesondere Frauen oft spät oder gar nicht diagnostiziert werden. Heute wird Autismus als Teil der natürlichen Neurodiversität verstanden, die durch spezifische Symptome in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie durch repetitive Verhaltensweisen und eine intensivere sensorische Wahrnehmung gekennzeichnet ist, die sich unter anderem in sozialer Interaktion, Kommunikation und Wahrnehmung unterscheidet. Der Begriff „Autismus-Spektrum“ verdeutlicht die Vielfalt individueller Ausprägungen.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Neurodiversitätsreihe, in der wir bereits Themen wie Hochbegabung, Hochsensibilität und ADHS genauer beleuchtet haben. Gemeinsam ist diesen neurologischen Besonderheiten, dass sie mit einzigartigen Potenzialen einhergehen – aber auch mit Herausforderungen, insbesondere in einem nicht sensibilisierten Umfeld.

Autistische Menschen bringen – wie alle Menschen – ganz unterschiedliche kognitive Stärken und Voraussetzungen mit: Manche benötigen Unterstützung im Alltag, andere verfügen über besondere intellektuelle Begabungen. Typische Merkmale sind Unterschiede in der sozialen Kommunikation (z. B. beim Erfassen unausgesprochener sozialer Regeln) sowie eine intensivere sensorische Wahrnehmung. Studien zeigen: Etwa 70 % der Menschen im Autismus-Spektrum haben mindestens eine weitere psychische Diagnose, bei fast der Hälfte ist es ADHS. Auch Hochsensibilität und Hochbegabung kommen deutlich häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung.

Diese Besonderheiten können im Berufsalltag zu Herausforderungen führen, insbesondere wenn es sich um ein reizintensives, stark sozial geprägtes Arbeitsumfeld handelt.

Stärken erkennen: Vielfalt statt Stereotype

Autistische Menschen sind in allen Berufsfeldern tätig, z. B. als Wissenschaftler:innen, Künstler:innen, Unternehmer:innen, Lehrer:innen, Ärzt:innen, Therapeut:innen, Handwerker:innen, Beschäftigte in der Wirtschaft, Erzieher:innen und in vielen weiteren Positionen. Den einen Job für Menschen mit Autismus gibt es somit nicht.

Entscheidend ist nicht die grundsätzliche Eignung, sondern die Passung: Welche Arbeitsbedingungen braucht es, damit Menschen im Spektrum in einer überwiegend neurotypischen Arbeitswelt gesund, wirksam und langfristig bestehen können?

Obwohl laut Studien teils weniger als 30 % der Autist:innen im regulären Arbeitsmarkt beschäftigt sind, dürfte die tatsächliche Zahl deutlich höher liegen. Die hohe Dunkelziffer betrifft häufig sogenannte „hochfunktionale“ Autist:innen, deren Berufstätigkeit meist unauffällig verlief oder sogar durch besondere Stärken begünstigt war. Viele konnten sich über Jahre durch sogenannte „Masking“-Strategien – also das bewusste oder unbewusste Anpassen an neurotypische Erwartungen – gut im Alltag zurechtfinden. Eine späte Diagnose erfolgt oft erst, wenn Überlastung im Beruf, Hinweise aus dem Umfeld oder eigene Vermutungen den Blick auf das Thema lenken. Langfristig kann die anhaltende Anpassungsleistung jedoch zu psychischer Erschöpfung, Depressionen oder Burn-out führen.

Häufige Stärken von Menschen im Autismus-Spektrum

Auch wenn jede autistische Person einzigartig ist, zeigen sich bestimmte Fähigkeiten und Potenziale in der Praxis in unterschiedlicher Ausprägung, dafür jedoch überdurchschnittlich häufig – vor allem dann, wenn die Arbeitsumgebung diese erkennt, zulässt und unterstützt:

  • Begeisterungsfähigkeit für spezifische Interessengebiete → Expertenstatus
  • Objektivität und Unabhängigkeit von sozialer Erwünschtheit → Klarheit im Urteil
  • Hohes Qualitätsbewusstsein → Verantwortungsgefühl und Präzision
  • Innovationspotenzial durch unkonventionelles oder „Out-of-the-box-Denken → Kreativität und neue Lösungswege
  • Systematisches Denken und Detailgenauigkeit → analytisches Potenzial
  • Ausdauer bei repetitiven, als sinnvoll wahrgenommenen Aufgaben → Verlässlichkeit
  • Struktur- und Routineorientierung → Organisationstalent und Zuverlässigkeit

Arbeitsbedingungen, die herausfordernd sein können

Für Menschen im Autismus-Spektrum sind nicht bestimmte Berufe „ungeeignet“, sondern vielmehr bestimmte Strukturen, die zur Belastung werden können, zum Beispiel:

  • ein Arbeitsumfeld mit hohem Lärm- oder Reizpegel;
  • Tätigkeiten mit vielen sozialen Schnittstellen ohne klare Rollendefinition;
  • unklare Kommunikation, vage Anweisungen, häufige Planänderungen;
  • kulturell geprägte „informelle Codes“ (z. B. Small Talk oder nonverbale Erwartungen).

Ein zentrales Risiko besteht in der Dauerbelastung durch alltägliche Anpassungsleistungen. Studien zeigen, dass autistische Menschen häufiger unter chronischem Stress, Depressionen oder Burn-out leiden als die Allgemeinbevölkerung. Gerade weil viele Autist:innen hohe Ansprüche an sich selbst stellen und leistungsfähig sind, werden Überlastungssymptome oft erst spät erkannt – auch von Arbeitgeber:innen.

Deshalb ist es besonders wichtig, dass betroffene Personen ihre individuellen Bedürfnisse erkennen, benennen und im Arbeitskontext kommunizieren können. Nur so können gemeinsam mit Kolleg:innen, Führungskräften oder betrieblichen Unterstützungsstellen passende Lösungen entwickelt werden – sei es durch klare Strukturen, angepasste Kommunikationsformen oder flexible Arbeitsgestaltung.

Mann arbeitet mit Laptop in Sitzecke

Herausforderungen im Berufsalltag – und wie sich diese überwinden lassen

Die größten Hindernisse im Arbeitsleben entstehen oft nicht aus mangelnder fachlicher Kompetenz, sondern durch einen fehlenden „Fit“ zwischen Person und Rahmenbedingungen. Demzufolge könnten folgende Aspekte beispielsweise verbessert werden:

  • Reizüberflutung kann durch technische Hilfsmittel wie Kopfhörer, ein ruhiges Einzelbüro oder durch die Arbeit im Homeoffice reduziert werden.
  • Unklare Kommunikation lässt sich durch schriftliche Briefings, klare Zuständigkeiten und direkte Rücksprachen verbessern.
  • Soziale Belastung kann durch geplante, klar strukturierte und vorhersehbare Austauschformate, Rückzugsräume oder Arbeit in kleineren, stabilen Teams gesenkt werden.

Ein gezieltes Karriere-Coaching kann dabei helfen, individuelle Lösungsstrategien zu entwickeln, die äußerst wichtige Kommunikation mit Vorgesetzten und Kolleg:innen vorzubereiten und die eigenen Bedürfnisse besser wahrzunehmen – ein Aspekt, der vielen Menschen im Spektrum schwerfällt.

Zudem gibt es über die Agentur für Arbeit spezifische Angebote, etwa AVGS Coachings oder Integrationsdienste, die beim Einstieg in eine neue Stelle begleitend unterstützen können. Auch Mentoring durch erfahrene Kolleg:innen oder die Zusammenarbeit mit einer/einem Integrationscoach können wesentlich zum beruflichen Erfolg und Wohlbefinden beitragen.

Darüber hinaus können Methoden zur Stressbewältigung – etwa durch Achtsamkeit, körperbasierte Übungen oder gezielte Reflexion – dabei helfen, die eigenen Bedürfnisse besser wahrzunehmen und Überlastung frühzeitig zu erkennen. Solche Kompetenzen stärken den Umgang mit herausfordernden Situationen und fördern langfristiges Wohlbefinden im Beruf.

Strategien zur beruflichen (Neu-)Orientierung im Spektrum

Viele Erwachsene, bei denen erst im Laufe des Berufslebens ein Autismus-Spektrum vermutet oder diagnostiziert wird, stellen sich die Frage: Wie finde ich einen Arbeitsplatz, der wirklich zu mir passt?

Die folgenden Strategien und Fragen können in diesem Zusammenhang hilfreich sein:

  • Selbstreflexion: Welche Bedingungen brauche ich, um gesund und produktiv zu arbeiten? Welche Werte und Arbeitsweisen sind mir wichtig?
  • Stärken sichtbar machen: Wie formuliere ich meine Kompetenzen, auch wenn mein Lebenslauf nicht geradlinig erscheint? Wie gehe ich im Bewerbungsgespräch mit Fragen zur Kommunikation oder Teamarbeit um?
  • Offenheit abwägen: Ist ein offener Umgang mit der Diagnose sinnvoll – und wenn ja, wann und wie?
    Die Entscheidung zur Offenlegung sollte gut überlegt sein. In vielen Fällen kann sie jedoch dazu beitragen, passende Rahmenbedingungen auszuhandeln – etwa im Hinblick auf Reizschutz, Kommunikation oder Arbeitszeiten.
  • Unterstützung nutzen: Karriere-Coaches mit Autismus-Kompetenz oder individuelle Unterstützungsangebote können den Orientierungsprozess gezielt unterstützen.

Diese Fragen sind nicht immer leicht zu beantworten und die genannten Strategien benötigen Zeit und Raum. Letztendlich handelt es sich dabei um einen individuellen Prozess, für den es keine Patentlösung gibt. Doch wer sich mit der eigenen Neurodiversität auseinandersetzt, die eigenen Bedürfnisse klarer erkennt und selbstbewusst kommuniziert, schafft die Grundlage für mehr berufliche Zufriedenheit.

Hände halten Autismusband

Fazit: Autismus und Beruf können gut zusammenpassen

Berufliche Erfüllung ist somit möglich – nicht trotz, sondern mit dem Spektrum.
Viele Menschen im Autismus-Spektrum wünschen sich ein Arbeitsumfeld, das ihre Wahrnehmung respektiert, ihre Stärken nutzt und Überforderung vermeidet.

Individuelle Wege brauchen passende Strategien und Rahmenbedingungen. Wenn Sie sich im Autismus-Spektrum wiedererkennen oder den Eindruck haben, dass bestimmte Herausforderungen damit zusammenhängen könnten – ganz unabhängig von einer offiziellen Diagnose –, kann ein professionelles Karriere-Coaching, wie das AVGS-Coaching des INQUA-Instituts, Sie dabei unterstützen. Denn im Rahmen eines Coachings können Sie unter anderem Ihren eigenen Weg reflektieren, lernen, Ihre Stärken gezielt einzusetzen, passende Rahmenbedingungen identifizieren und neue berufliche Perspektiven entwickeln. Besonders hilfreich ist dabei ein:e Coach mit Erfahrung im Autismus-Spektrum oder verwandten neurodivergenten Profilen.

Es gibt viele berufliche Wege, die sich mit autistischen Stärken gut vereinbaren lassen. Entscheidend ist, dass die grundlegenden Gegebenheiten stimmen.

Für manche Menschen kann eine Diagnose eine wertvolle Orientierungshilfe sein und den Blick auf die eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten positiv verändern. Andere finden auch ohne offizielle Diagnose ihren eigenen Weg zu einem stimmigen Selbstverständnis.

Oder wie der Autismus-Experte Tony Attwood es ausdrückt:

„Herzlichen Glückwunsch – Sie sind im Autismus-Spektrum. Sie gehören zu einer faszinierenden Minderheit, die die Welt auf besondere Weise wahrnimmt.“

Über den Autor: 

Bettina Nowak ist INQUA Coach in Wiesbaden

Das Thema Autismus begleitet die Autorin seit über einem Jahrzehnt – nicht nur beruflich, sondern auch ganz persönlich. Heute bringt sie dieses Wissen als Karriere-Coachin, Resilienz- und Achtsamkeitstrainerin sowie durch ihr Engagement im Verein Autismus Rhein-Main e.V. in ihre Arbeit mit Klient:innen ein. Besonders vertraut ist sie mit den spezifischen Herausforderungen neurodivergenter Menschen mit akademischem Hintergrund oder verantwortungsvollen Tätigkeiten – und begleitet sie auf dem Weg zu stimmigen beruflichen Lösungen.

Weitere Links zum Thema

Blogbeitrag:

Kompetenzprofil High Profiling® – Ihren Stärken auf der Spur

Weitere Informationen und Literaturempfehlungen:

Mit Asperger-Syndrom im Job zufrieden und erfolgreich sein, Tony Attwood, Michelle Garnett

Überraschend anders: Mädchen & Frauen mit Asperger, Christine Preißmann

Website des Bundesverbands Autismus Deutschland e.V., dem zentralen Selbsthilfeverband für Menschen im Autismus-Spektrum, ihre Angehörigen sowie Fachleute im deutschsprachigen Raum. Die Seite bietet umfangreiche Informationen, aktuelle Nachrichten, Adressen von Regionalverbänden und Hinweise zu Diagnostik, Unterstützung und Teilhabe.

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